Wenn Personen sich aufgrund ihrer körperlichen Merkmale nicht eindeutig den Kategorien von «männlich» und «weiblich» zuordnen lassen, wird von Varianten der Geschlechtsentwicklung gesprochen. Werden diese Varianten bei der Geburt – oder auch später – festgestellt, können sich komplexe medizin-ethische Fragen stellen. Als Hilfestellung für die Praxis sind Richtlinien in Erarbeitung.
Der Ausdruck «Varianten der Geschlechtsentwicklung», im Englischen «differences of sex development» (DSD) genannt, umfasst eine Reihe zum Teil sehr heterogener Befunde. Manche gehen mit gesundheitlichen Gefährdungen oder funktionellen Beeinträchtigungen einher, andere nicht. In der Vergangenheit wurden Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung oft umfangreichen hormonellen Behandlungen ausgesetzt und chirurgischen Eingriffen unterzogen. Dies mit dem Ziel, ihr Geschlecht im Sinne der Eindeutigkeit anzupassen. Seit einiger Zeit bekommen die Stimmen der Personen, die solche Interventionen erlebten, vermehrt Gehör. Dabei wird deutlich, dass ihre Erfahrungen oft von Leid geprägt waren und nicht selten traumatischen Charakter hatten und haben.
Medizin-ethische Herausforderungen
In den letzten Jahrzehnten hat sich die medizinische Landschaft in der Schweiz gewandelt. Massnahmen zur Vereindeutigung oder Zuweisung eines Geschlechts bei Kindern mit DSD werden nicht mehr standardmässig ergriffen. Dennoch werden bestimmte Interventionen in spezifischen Fällen immer noch durchgeführt. Für Ärztinnen und Ärzte, aber auch für Eltern stellt sich die Frage, welche Massnahmen aus einer medizin-ethischen Perspektive verantwortbar sind.
Dies führt zu einer Reihe weiterer medizin-ethischer Herausforderungen: Bei der Frage nach der Angemessenheit von medizinischen Eingriffen ist primär das Kindeswohl zu beachten. Dabei sind nicht nur die Interessen und Bedürfnisse des (neugeborenen) Kindes zu beachten, sondern auch die Perspektive der Person in späteren Lebensphasen. Diese längerfristigen Entwicklungen sind oft sehr schwer einzuschätzen.
Besondere medizin-ethische Brisanz birgt die Tatsache, dass es sich bei den möglichen medizinischen Massnahmen um chirurgische, teilweise sogar irreversible, Eingriffe handelt und das (neugeborene) Kind nicht selbst dem Eingriff zustimmen kann. Es ist zu klären, ob über solche Eingriffe, sofern sie nicht überlebensnotwendig sind, ohne die Einwilligung des Kindes entschieden werden kann und wie die Perspektive der Eltern einzubinden ist.
Hintergrund
Relativ betrachtet kommen wenige Kinder mit unmittelbar erkennbaren Varianten der Geschlechtsentwicklung auf die Welt, doch es stellen sich grundsätzliche medizin-ethische Fragen. Betroffen sind z. B. Grundwerte wie Körperintegrität und Wohlergehen, und es geht um Personen, die sich in einer besonders vulnerablen Lage befinden. Es ist deshalb unabdingbar, dass schweizweit ein breiter Konsens für die Orientierung in der Praxis geschaffen wird. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) hat aus diesem Grund bereits 2012 die Erarbeitung entsprechender SAMW-Richtlinien empfohlen. 2016 hielt die ZEK in einer Stellungnahme fest, dass sie dafür Hand bieten würde. Angesichts drängender anderer Prioritäten wurde die Thematik allerdings nicht sofort bearbeitet.
Mit der Annahme der Motion 23.3967 «Verbesserung der Behandlung von Kindern, die mit einer Variation der geschlechtlichen Entwicklung (DSD) geboren wurden» hat das Parlament 2024 den Bundesrat beauftragt, dafür zu sorgen, dass die SAMW die entsprechenden medizin-ethischen Richtlinien rasch erarbeiten kann. Der Bund hat die Finanzierung der Arbeiten schliesslich sichergestellt. Die Subkommission arbeitet ergebnisoffen und ist in der Ausarbeitung der Richtlinien frei. Gemäss Motionstext sollen die Stellungnahme der NEK von 2012, neueste wissenschaftliche Entwicklungen und die Perspektive von «Betroffenen» berücksichtigt werden.
Ziel und Vorgehen
Im Juni 2025 hat die Zentrale Ethikkommission (ZEK) eine breit interprofessionell und interdisziplinär zusammengesetzte Subkommission eingesetzt. Darin sind neben Fachpersonen aus den relevanten medizinischen Disziplinen auch Personen vertreten, die Expertise aus Erfahrung mitbringen, sowie Expertinnen und Experten auf den Gebieten des Rechts, der Psychologie und der Ethik.
Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, unter welchen Bedingungen medizinische Massnahmen bei Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung ethisch verantwortbar sind. Dabei spielt der Schutz von Körperintegrität und Autonomie eine zentrale Rolle. Entsprechend geht die Subkommission vertieft der Frage nach, wann bei etwaigen medizinischen Interventionen von Urteilsfähigkeit ausgegangen werden kann. Sie beschäftigt sich damit, wie das Kindeswohl geschützt werden sollte und wie mit den Bedürfnissen der Eltern umzugehen ist. Gleichzeitig erörtert die Subkommission weiterführende Fragen wie die angemessene Kommunikation von DSD-Befunden, die psychologische Unterstützung von Kindern und Angehörigen und die für eine optimale Begleitung nötigen Ressourcen.
Die Subkommission hat ihre Arbeit im August 2025 aufgenommen. Informationen zum Prozess der Ausarbeitung von Richtlinien finden sich im folgenden Dokument:
«Prozedere der Ausarbeitung medizin-ethischer Richtlinien der SAMW»
Zusammensetzung der Subkommission
Dipl. theol. Hubert Kössler, Bern, Vorsitz, Ethik
Deborah Abate, Lausanne, Interessenvertretung
Prof. Dr. iur. Regina Aebi-Müller, Luzern, Recht
Kathrin Ambord, Zürich, Interessenvertretung
Dr. med. Jacques Birraux, Genève, Kinderchirurgie
Dr. phil. Christian Budnik, SAMW, ex officio, Ethik
Dr. med. Kanetee Busiah, Lausanne, Pädiatrische Endokrinologie
Prof. Dr. iur. Michelle Cottier, Genève, Recht
Dr. med. Irène Dingeldein, Düdingen, Kinder- und Jugendgynäkologie
Dr. med. Mirjam Dirlewanger, Genève, Pädiatrische Endokrinologie
Prof. Dr. med. Isabel Filges, Basel, Medizinische Genetik
Prof. Dr. med. Christa Flück, Bern, Pädiatrische Endokrinologie
Dr. med. Uchenna Kennedy, Zürich, Urologie
Prof. Dr. med. Annette Kuhn, Bern, Urogynäkologie
Maike Nelissen, Fislisbach, Interessenvertretung
lic. phil. Marie-Lou Nussbaum, Bern, Psychologie
Dr. sc. med. Regula Ott, Zürich, Ethik
Rebecca Pfaffen, MAS, Zürich, Ethik/Pflege
Dr. phil. Norma Ruppen-Greef, Zürich, Psychologie
Urs Vanessa Sager, Bern, Interessenvertretung
Dr. med. Jürg Streuli, St. Gallen, Pädiatrie/Ethik
Dr. iur. Charlotte Wetterauer, Basel, Ethik
«Interessenvertretung» umfasst Personen mit Expertise aus Erfahrung.